30
Dez
2008

In der Brick Lane

In der Vibe Bar ist kaum noch ein freier Sitzplatz mehr zu finden, als Sebastian und ich Sonntagabend auf einen Drink vorbei schauen wollen. Auf den Sofas haben es sich einige Studenten mit ihren Cocktails gemütlich gemacht, es ist dunkel wie immer, und die Musik halb alternativ, halb elektronisch, der Bass wummert, sodass wir uns schreiend unterhalten müssen.
Nach meiner letzen Schicht im Beerhouse sind wir das vorerst letzte Mal durch Brick Lane geschlendert, vorbei an den Designerläden, den Marktständen und Bars…
Der Keeper lässt unseren ersten Cocktail fallen, einen Yellow Brick Lane. Im Gang finden wir dann eine unbelegte Holzbank, nicht wirklich so bequem wie ein Sofa, aber die Lautstärke ist etwas angenehmer besser als stehen ist es allemal.

Sebastian fragt mich, wann ich denn zurück komme nach London, und ich würde gerne antworten „ich könnte auch einfach jetzt da bleiben, dann muss ich gar nicht zurück kommen“. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich zu Hause so viele Vernunftentscheidungen treffen werden muss, dass England viel zu lange warten könnte. Dass ich im schlimmsten Fall wieder sesshaft werde. Sebastian weiß noch gar nicht wie es bei ihm weitergeht, er redet von Italien und Rom, vor ein paar Wochen hatte er Tokio erwähnt. Er kam damals ohne Geld hier an, erzählte seinem ersten Arbeitgeber man hätte ihn ausgeraubt und er müsse die ersten zwei Wochen täglich bezahlt werden.
Ich glaube, dass ihm manchmal einfach die Wurzeln fehlen, aber das tun sie bei vielen Menschen die man so trifft. Irgendwann hatte er mal gemeint er wolle in Deutschland sein Abitur nachholen, wenn sein Englisch gut genug ist.
In einem sind wir uns aber einig: Dieses Reisen macht süchtig. Man muss gut aufpassen, dass man nicht beginnt immer wieder irgendwo Neu an zu fangen, und das genau dann, wenn man sich eingelebt hat. Zum ersten Mal verstehe ich einen Freund, der mal zu mir gesagt hat „ Das Leben besteht aus vielen Kapitel, und jedes geht nun mal zu Ende, und dann beginnt eben ein neues.“
Wie es bei mir jetzt weitergehe kann noch nicht einmal ich ihm sagen. Kunst? Journalismus? Lehramt? Ein Leben in einem Büro ist eigentlich das letzte, worauf ich Lust habe, ich will etwas, womit man herumkommt, etwas das immer neue Herausforderungen bietet, und gleichzeitig sollte ich eine Familie haben können, die kein Nomadenleben führen muss. Gibt es das den überhaupt? Und darf ich so wählerisch sein, während alle vom großen Credit Crunch sprechen?
Sebastian hört mir einfach zu, während ich laut weiterdenke. „Kann ich denn mit meiner Kunst das erreichen, was ich immer wollte? Wollte ich mit der Kunst jemals wirklich was erreichen? Kann ich dem Menschen um mich herum so wirklich etwas sagen, oder dachte ich das nur Jahre lang? Brauche ich jetzt den Mut etwas Neues zu wagen, oder die Beharrlichkeit, Altes nicht aufzugeben?“
Ich würde gerne in die Zukunft reisen, wissen wofür ich mich entschieden habe, und herausfinden ob ich damit glücklich bin. Ich habe das drückende Gefühl, noch hier in London zu einer Entscheidung kommen zu müssen. Aber da ich das heute wohl nicht mehr herausfinden werde, entschuldige ich mich kurz.

Als ich von der Toilette zurück komme hat Sebastian Bier geholt. „Was’ n das für eines?“ frage ich. „Willst du wirklich wissen was ich bestellt habe? The finest, cheapest Lager you have, please.“ Wir beide müssen lachen und unterhalten uns über deutsche Filme, die er nicht kennt, und gute Amerikanische, von deren Existenz ich überrascht bin. Vorsorglich verabreden wir uns deshalb für ne Film-Nachhilfestunde für meine Rückkehr.
Nachdem mein Magen „HUNGER!“ meldet, und Sebastian einen Asiaten vorschlägt, komme ich an einem meiner letzen Abende auch in den Genuss in Brick Lane zu essen. Wir betreten das ziemlich ruhige Lokal, die Wände sind dunkel, und wir sind die einzigen Gäste. An der Stirnseite des kleinen Saales ist ein rosafarbener kitschiger Altar mit Glitzer und Federn. Der arme Kellner muss dreimal vorbei schauen, bevor ich mich endlich in der Speisekarte zurechtgefunden habe, Sebastian, der nicht so ein Anfänger ist entscheidet sich für Reis mit viel Scharf. Ich bestelle mir dann einen Lemongrass Cocktail und Nudeln mit Schrimps, ganz ohne Scharf und obwohl ich gar kein Anhänger der fernöstlichen Küche bin schmeckt es richtig lecker. Bevor wir gehen lass ich es mir nicht nehmen heimlich die Speisekarte einzupacken. Dass mein Aufenthalt ganz bald vorbei sein wird macht mich doch, trotz aller Freude auf zu Hause traurig.

An der Liverpool Street Station angekommen erwähnt Sebastian eine Party am Mittwoch, und selbstverständlich ist es vernünftiger am letzen Abend früh schlafen zu gehen, um fit für die Heimreise zu sein, aber wie sollte es anders sein, ignoriere ich das leise Stimmchen, sage ohne zu zögern „bin dabei“, und freu mich schon genau so auf die Party, wie mir vor dem Tag danach graut, an dem ich komplett verkatert mit meinem 100 Kilo Koffer die lange Heimreise antreten soll.

In Bank verabschieden wir uns flüchtig, weil unsere Bahnen schon da stehen. In vier Tagen werde ich mit meiner Familie am Tisch sitzen, daheim in unserer Küche in Deutschland.
logo

The best dog is a Hot Dog

Praktikum in London

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

und so gehts weiter...
http://eddigoesuniversity. twoday.net
EddiinLondon - 18. Mär, 17:56
Auf deutschem Boden
Die ersten vertrauten Gesichter in die ich schaue sind...
EddiinLondon - 28. Jan, 23:40
Schalter, Pech und Pannen
Der unfreundliche Mann am Schalter (ich betone deswegen,...
EddiinLondon - 28. Jan, 23:37
Alles Easy
Die Party wirkt wie eine Betäubungsspritze, denn mein...
EddiinLondon - 28. Jan, 23:36
ps
und das schlimmste.. Was soll ich jetzt immer lesen...
steffen (Gast) - 28. Jan, 02:28

Links

Suche

 

Status

Online seit 5706 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren