25
Okt
2008

A Long Way Home

Er strich das weiße Tischtuch glatt
Und blickte in das Glas.
Fast hatte er das Leben satt.
Was wollte er in dieser Stadt,
in der er einsam saß?

Da stand er; in der Stadt Berlin;
Auf von dem kleinen Tisch.
Keiner der Menschen kannte ihn.
Da fing er an, den Hut zu ziehen!
Not macht erfinderisch.

(„Sozusagen in der Fremde“, Erich Kästner)


Während ich heute Morgen noch unter der Dusche stehe und mir das heiße Wasser über den Rücken laufen lasse, gehen mir die letzen Tage noch mal durch den Kopf…

Direkt am Tag nach meiner Pleite starte ich einen zweiten Versuch. Ein Blick aus dem Fenster sagt mir, das Wetter ist unverändert grau, meine Stimmung unverändert unmotiviert. Deshalb brauche ich noch, trotz aller guten Absichten den halben Tag um mich auf den Weg zu machen.
Tippend verbringe ich den Vormittag in der Küche. Später schaut Philipp kurz vorbei, er soll übermorgen im Beer House anfangen und wir verabreden uns für den morgigen Nachmittag, um gemeinsam hin zu fahren.

Nach weiteren vertrödelten Stunden ist es bereits halb 4 und ich sollte wirklich los. Zeitdruck ist meine einzige Motivation wie es scheint, denn ich will nicht 5 Minuten vor Ladenschluss auftauchen.

Als ich die Tube bei Tower Hill erneut verlasse, sagt mir mein Gefühl, ich hätte besser zu Hause bleiben sollen. Heute ist kein Tag um unter Menschen zu kommen.

Es windet schrecklich und ich klappe meinen Jackenkragen hoch, während ich mich durch die ganzen Touristen kämpfe, die sich Fotos knipsend auf der Tower Bridge tummeln und scheinbar alle Zeit der Welt haben.

Pierres Galerie winkt mir schon mit der bunten Fahne, als ich in die Crucifix Lane einbiege. Ich öffne die riesige Glastür und betrete das Kellergewölbe. Die Atelier-Galerie, die sich unter der U-Bahn befindet wirkt wie eine Höhle. Ein Zug rattert über meinen Kopf und es dröhnt. Aus einem Player kommt Frank Sinatra, und es ist gemütlich warm.
Durch den Raum verläuft ein Catwalk, auf dem Uhren und Taschen ausgestellt sind. An langen Stangen hängen Kleider, darüber an den Wänden Bilder. Auf einem Podest neben der Tür liegen Kissen. Obwohl es draußen bereits zu dämmern begonnen hat ist die Galerie von den vielen bunten Lampen die von der Decken hängen schön hell. Auf dem Tisch in der Mitte des großen Raumes liegt eine Katze, die schläft.
Pierre kommt aus dem Hinterzimmer. Natürlich erinnert er sich nicht an mich. Ich war nur eine Touristin, die einmal vor ein paar Jahren in seine Galerie gestolpert ist, in London verlaufen und von dem bunten Schaufenster angezogen. Immerhin ehrlich genug, um zu den Bildern (Moderne Kunst „Kleckserei“), die für n paar Hunderter oder Tausender zu erwerben waren, Stellung zu nehmen. Noch nicht mal die Schule abgeschlossen habe ich ihm erklärt kein Geld für etwas aus zu geben, dass ich selber mit verbundenen Augen oder im Vollrausch machen kann, woraufhin er mit eine leinwand gegeben hat. „Bitteschön, mach selbst“.
Das Resultat, ein genau so schreckliches Gekleckse sollte in der Galerie bleiben und einen neuen Besitzer finden.
„Hello“ begrüßt er mich. „You can touch everything you like, take a picture, everything’s for sell…“ „…Except the Cat“ beende ich den Satz für ihn.
Ob ich schon einmal hier gewesen war, fragt er, und ich erzähle ihm von meinem Besuch vor 2 Jahren, als ich mich in die Stadt, die mir die letzen Tage ganz schön auf die Nerven gegangen ist verliebt habe.
Er bietet mir einen Stuhl an, und ich erzähle ihm von meinem Vorhaben, hier in London mehr über Kunst und das Künstlerdasein zu erfahren, und dass ich dafür mein altes Praktikum beendet habe.
Wir sitzen lange zusammen und plaudern über Kunst, Mode und Musik.
Auf dem Weg zurück an die Station kann ich gar nicht glauben, dass ich morgen wieder kommen kann. Einfach so, Ohne Lebenslauf und bewerbungschreiben, ganz abgesehen von Zeugnis oder Empfehlung..
Für einen Moment halte ich es sogar für ein Missverständnis. Sicher hat mein Englisch mir einen streich gespielt und ich soll morgen kommen um die Fenster zu putzen.
Die Tower Brige ist immer noch voll mit Touristen. Das Hafenviertel bunt beleuchtet und auch der Tower zu meiner Linken sieht im Licht eher aus wie ein Schloss als wie ein Gefängnis.
Ich fühle mich wie ein kleines Kind, dass so hoch schaukelt, dass es weiß, eigentlich keine Kontrolle mehr über die Schaukel zu haben. Es ist ein verdammt gutes Gefühl sich überwunden zu haben, und etwas zu tun, das man sich zuerst nicht zugetraut hat.
Steffen der mich fragt, ob wir uns nicht noch treffen wollen sage ich sofort zu. Heute will ich unter die Leute, heute muss gefeiert werden. Als ich abends in der leeren Wohnung ankomme fühle ich mich endlich wieder alles andere als allein!

Am nächsten Morgen verschlafe ich erstmal dicke, aber Pierre stört es gar nicht. Ich bin selber überrascht, endlich mal so gut geschlafen zu haben, die letzen Tage bin ich immer zu früh aufgewacht.

Während wir uns Fotos von meinen Arbeiten ansehen und bei Zeichnungen stehen bleiben, die im Sommer in der Autowerkstatt eines Freundes entstanden sind, in der ich ich auch gelernt habe Reifen zu wechseln (Danke Puiu und Sergej ;-) )fragt er mich ob ich das auch aus Stoff machen kann, und ehe ich mich versehe sitze ich, Urenkelin, Enkelin und Tochter von Schneiderinnen das erste Mal in meinem Leben an einer Nähmaschiene.
Anfangs reißt der Faden alle paar Minuten, aber ich schaffe es überraschend schnell eine gerade Linie zu nähen. Trotzdem muss ich andauernd auftrennen, neu nähen oder ein paar Stücke in den Müll wandern lassen. Aber es macht nicht nur richtig Spaß, ich habe auch seit Ewigkeiten endlich wieder das Gefühl, etwas nützliches zu lernen!
Nach den 5 fertigen Teilen am Abend ergibt meine Hochrechnung zwar eine Woche (dass ich mit etwas Übung schneller werde mit eingerechnet), aber das ist mir egal. Meine Neigungsabhängige Super Motivation hat zugeschlafen, und ich könnte die ganze Nacht durchnähen!
Am Abend kann ich auch ganz stolz meiner Mutter von meinem Tag berichten, heute kam das Festnetztelefon und das eigene Internet an.
„Musstest aber ganz schön weit fahren, um das zu lernen“, meint sie zu meiner Neuesten Mission, und ich gebe ihr Recht, und Demjenigen, der mal gesagt hat „It’s a long way home“.
logo

The best dog is a Hot Dog

Praktikum in London

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

und so gehts weiter...
http://eddigoesuniversity. twoday.net
EddiinLondon - 18. Mär, 17:56
Auf deutschem Boden
Die ersten vertrauten Gesichter in die ich schaue sind...
EddiinLondon - 28. Jan, 23:40
Schalter, Pech und Pannen
Der unfreundliche Mann am Schalter (ich betone deswegen,...
EddiinLondon - 28. Jan, 23:37
Alles Easy
Die Party wirkt wie eine Betäubungsspritze, denn mein...
EddiinLondon - 28. Jan, 23:36
ps
und das schlimmste.. Was soll ich jetzt immer lesen...
steffen (Gast) - 28. Jan, 02:28

Links

Suche

 

Status

Online seit 6061 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 15. Jul, 02:09

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren